Erlebnis Kolumbien – August 2005
Seit fast 12 Jahren bin ich durch unser Kinderhilfswerk La Flora mit dem Land Kolumbien und den Menschen dort verbunden. Jahrelang hatte ich darauf gewartet, nach Kolumbien zu reisen, nun war es endlich soweit. Ich landete in Bogotá und befand mich in einer fremden Welt. Sprachengewirr, Lärm, Menschenmassen, Militär, Polizei, Sicherheitskontrollen… Zum Glück wurde ich von meiner Freundin Hildegard und ihrem Mann abgeholt und landete wohlbehalten in deren Haus. Bogotá, die Hauptstadt Kolumbiens mit 8 Millionen Einwohnern und größte Metropole in den Anden, schmiegt sich langgezogen an eine steil ansteigende Bergkette der Ostkordillere. Bogotá, eine moderne Großstadt und doch so eigen in ihrer Vielfalt, ihrer Farbenpracht und in ihren Gegensätzen. Im Norden der Stadt Reichtum, Kultur, Kunst, Geschäfte, Banken, Mode, elegante Restaurants, Museen, Universitäten… Südlich des Zentrums beginnt eine der größten Barackenstädte Lateinamerikas, wo sich die Asphaltstraßen in Schlammpfade auflösen und Stromleitungen und Kanalisation enden. Um dem Chaos, der Hektik und dem Smog der Millionenstadt zu entfliehen, braucht man nur nördlich stadtauswärts zu fahren und bald schon ist man umgeben von grünen Hügeln, weidenden Kühen, idyllischer Landschaft und malerischen Dörfern und kleinen Städten wie Tunja, Villa de Leyva oder Guatavita mit seiner sagenumwobenen Lagune. Der Einfluss der Spanier ist auch heute noch im ganzen Land unübersehbar. Der Kolonialstil prägt Straßen, Plätze und die Häuser mit ihren eleganten Innenhöfen und schmucken Balkons. Es wundert mich nicht, dass Städte wie Villa de Leyva mit ihren strahlend weißen Häusern, umgeben von der verschwenderischen Farbenpracht unzähliger Bougainvillesträuchern, Jahrhunderte hindurch Orte waren, an die sich Künstler, Mönche und Politiker zur Meditation zurückzogen. Von kolonialer Architektur und Zeugnissen der spanischen Feudalherrschaft ist die Stadt Tunja als ehemalige Hauptstadt besonders geprägt. In nächster Nähe erinnert die Brücke von Bojacá an die Befreiung Kolumbiens durch Simon Bolivar und die Erringung der Unabhängigkeit des Landes.
Ich hatte das Glück, nicht nur die Gegend nördlich von Bogotá kennen zu lernen, der Ausflug in den Süden, in das „ warme Land“, bescherte mir völlig andere, unbeschreiblich schöne Eindrücke und Erlebnisse. Mit jeder Kurve, die von Bogotá aus 2600 m Höhe bergab führt, spürt man die ansteigende Temperatur, die Vegetation und die Farbenpracht der Blüten wird üppiger, der Himmel blauer, unzählige buntgefiederte Vögel bevölkern Zitrusbäume, Papaja, Mango, Bananen, Eukalyptus, Hibiskus und zahllose Arten von tropischen Blumen, Sträuchern und Bäumen. Eine Bootsfahrt auf dem Magdalenafluss ließ mich über die Vergangenheit und die bewegte Geschichte der Menschen nachdenken, die im Laufe der Zeit die Flussufer besiedelten. Trotz großer Armut gehören Lebensfreude, Fröhlichkeit, Freundlichkeit, Musik und Tanz zum farbigen Bild dieser Region.
Lange noch könnte ich von den Erlebnissen, Eindrücken und menschlichen Begegnungen erzählen, die mir die Reise in dieses wunderbare Land beschert hat. Doch will ich nun über den zweiten Teil meiner Reise, der eigentlich im Vordergrund stand, berichten.
Wie schon anfangs erwähnt, fühle ich mich durch die langjährige Arbeit für unser Kinderhilfswerk La Flora mit den Menschen, die wir betreuen, eng verbunden. Nun sollte ich endlich „ meine Kinder“ persönlich kennen lernen. Nicht nur ich war sehr gespannt auf die Begegnung, die Kinder und ihre Mütter waren schon wochenlang vor unserer Ankunft damit beschäftigt, ein Willkommensfest für uns vorzubereiten. Dann war es soweit. Hildegard hatte einen geeigneten Raum gefunden, in dem wir von allen Müttern und Kindern (160 Personen) auf das Herzlichste empfangen wurden. Für mich war das erste Treffen mit den Kindern, deren Gesichter mir von Fotos schon bekannt waren, ein unbeschreibliches Erlebnis. Mütter und Kinder begrüßten mich mit einer natürlichen Herzlichkeit und Unbefangenheit, unbändige Freude und Dankbarkeit strahlte aus allen Gesichtern. Mit Tänzen, Liedern, Gedichten, kleinen Ansprachen und Gebeten wurden wir auf das Liebevollste begrüßt und willkommen geheißen. Natürlich gehören zu einem richtigen Fest auch Speisen und Getränke. Einige Frauen hatten ein Maisgericht vorbereitet, dazu besorgten wir Käse, Nachtisch, Eis und Getränke. Die für das Fest vorgesehene Zeit war längst überschritten, als wir uns alle auf den Heimweg machten, froh und glücklich über diesen segensreichen Tag.
Einige Tage später trafen wir „unsere Kinder“ mit ihren Müttern in kleinen Gruppen, um sie näher kennen zu lernen, uns ihre Sorgen und Nöte anzuhören und Geschenke, Briefe und Grüße von ihren Paten zu überbringen. Pakete mit kleinen Geschenken und Süßigkeiten hatten wir vorbereitet und es war eine große Freude, sie an die Kinder zu verteilen. Nachdem wir jetzt mit dem Schicksal dieser Menschen hautnah konfrontiert waren, galt es zu überlegen und abzuwägen, wo Hilfe am nötigsten ist und wie am effektivsten geholfen werden kann. Da ist die Frau mit den drei Kindern und dem neugeborenen Enkelkind, ohne Arbeit, ohne Einkommen. Der Lehmboden in der Hütte ist kalt und nass, das Baby soll nicht krank werden, wir helfen mit einem Zementboden. Ein Junge muss dringend eine Spezialbehandlung seiner Zähne bekommen, die an der falschen Stelle wachsen und sein Gesicht entstellen. Eine Mutter versorgt mehrere Kinder und das Baby ihrer krebskranken Tochter. Sie kann Miete, Strom und Wasser nicht mehr bezahlen. Wir helfen, bevor sie auf die Straße gesetzt wird. Die alte Abigail hat nur ein sehendes Auge und nun auch noch ihre Brille verloren. Sie ist so dankbar für die neue Brille, die sie von uns bekommt. Nataly leidet an einer schmerzhaften Knochenkrankheit. Die Kälte verschlimmert ihre Schmerzen, deshalb besorgen wir für sie warme Strumpfhosen. Eine Familie bittet um eine Anleihe für ein kleines Häuschen. Die momentanen Wohnverhältnisse sind unerträglich – die Mutter ist an den Rollstuhl gefesselt, der Vater sortiert gelegentlich Müll, hat aber kein festes Einkommen. Die Frau ohne Hände und mit nur einem Bein erzählt uns von ihrer kaputten Beinprothese. Natürlich muss dieser vom Schicksal geschlagenen Frau geholfen werden. Die Liste ähnlicher Beispiele könnte endlos fortgesetzt werden. Zu meiner großen Freude konnte mit den Spenden, die ich direkt aus Deutschland mitgebracht hatte, sehr viel Not an Ort und Stelle gelindert werden. Der letzte Teil des La Flora-Programms war eine ziemliche Herausforderung. Wir hatten beschlossen, wenigstens einige Familien in ihren Behausungen zu besuchen. Schon die Anfahrt vom Norden der Stadt bis in den tiefen Süden bedeutete Verkehrschaos, schlechte Straßen, ein immer ärmlicher und hässlicher werdendes Stadtbild, eine Gegend, die immer unsicherer und gefährlicher wurde. Meine Gefühle während dieser mehr als einstündigen Fahrt wanderten zwischen Mitleid für die Menschen, die ich sah, Betroffenheit über so viel Armut, Wut auf die Regierung, die nichts tut, Ohnmacht und Hilflosigkeit, ein wenig Angst – mir wird schon nichts passieren.
Unser Taxifahrer brachte uns sicher nach La Flora und ließ uns nicht aus den Augen, wenn wir aus dem Auto stiegen. Unser erster Besuch galt der alten Abigail. Wir mussten uns ihr kaputtes Dach ansehen, scheinbar hätte sie mehr Regen im Haus als vor dem Haus. Im großen Speiseraum trafen wir uns mit Mercedes und Lilia. Es war eine angenehme Überraschung, den Speiseraum zu sehen, der vor Jahren aus unserer Initiative entstanden war und nun mit großer Sorgfalt betrieben wird und täglich 500 Kindern eine warme Mahlzeit bietet. Pater Rafael und Schwester Gloria informierten uns über diverse Aktivitäten, die in den zusätzlichen Räumen regelmäßig stattfinden. Mercedes und Lilia führten uns anschließend zu ihren Behausungen – ein ziemlich erschütternder Anblick! Sie haben noch keine festen Wände, nur Wellblech, Plastik, Karton… Dazwischen die Kinder, Hasen, Hühner, Hunde, Katzen, geordnet, so gut es eben geht.
Bei Familie Perez hat sich bezüglich der Wohnqualität sehr viel verbessert. Die Familie hat großes Glück, sie wird ganz konkret sehr großzügig unterstützt. Allerdings ist Flor und ihre Kinder vom Schicksal besonders hart getroffen. Flor hat Krebs und wenig Hoffnung auf Heilung. Ihr Mann kam vor einiger Zeit bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Zwei der vier Kinder sind chronisch krank und brauchen ständig medizinische Betreuung. Dank der großen Unterstützung durch viele Freunde und Spender in Deutschland konnten die Wohnverhältnisse unserer Familien in den letzten Jahren schon deutlich verbessert werden, doch fehlt es noch immer an allen Ecken und Enden. Hier ein Fußboden, dort ein Dach, da eine Tür, eine Toilette, eine Dusche, ein Gaskocher, Möbel, Decken und Teppiche gegen die Kälte in 3000 Meter Höhe, u.s.w. Tief beeindruckt, doch auch sehr froh und dankbar über die Früchte, die unsere Arbeit bereits getragen hat, nahm ich Abschied von den Menschen, die ich ganz tief ins Herz geschlossen habe und die wohl auch weiterhin ein Teil meines Lebens sein werden.
Dieser Bericht kann nur ein kleiner Versuch sein, ein wenig von dem zu erzählen, was ich während meines Aufenthaltes in Kolumbien erlebt habe. Ich möchte mit diesem Satz schließen:
Ich danke allen von ganzem Herzen, die mir bisher geholfen haben, Not zu lindern und bitte Sie, mich weiterhin zu unterstützen.